Entwicklungsstufen als [druckbare PDF-Version]
Jean Piaget (1896 - 1980) entwickelte die Theorie des "genetischen Lernens" (auch "struktur-genetische" Theorie), die sich mit der Erklärung der kognitiven Entwicklung von Kindern beschäftigt. Im Mittelpunkt steht dabei die Interaktion eines Kindes mit seiner Umwelt. Piaget wird als "Übervater der Entwicklungspsychologie" bezeichnet (vgl. Spektrum der Wissenschaft, 2002).
Seine Erkenntnisse beruhen auf den Beobachtungen seiner eignen Kinder, die
altersabhängig bestimmte (Denk-) Fehler begingen. Mit dieser Vorgehensweise
unterschied sich Piaget deutlich von experimentell arbeitenden Psychologen, die
komplizierte Versuchsanordnungen in eigens eingerichteten Versuchslaboren für
die Forschung nutzen (und nutzen).
Piaget untersuchte den Aufbau der
kindlichen Logik anhand seiner empirischen Beobachtungen
natürlicher Verhaltensabläufe und entwickelte daraus eine erkenntnistheoretische Begründung:
Er stellte den Zusammenhang zwischen dem kindlichen Denken und
der Entwicklungsphase her. Kurzum: er widmete sich der Beobachtung der kindlichen Entwicklung des
Denkens.
Auf seinen Beobachtungen baute Piaget sein Modell der vier Entwicklungsstufen auf, nach denen jeder Mensch im Rahmen seiner
Entwicklung diese Phasen oder Stadien der kognitiven Entwicklung durchläuft.
Nach Piaget sind die Phasen universell, d.h. sie kommen in allen Kulturen vor.
Jede dieser
Stufen/Phasen ist durch spezifische Merkmale charakterisiert. Besonders relevant ist,
dass sich das kindliche Denken in jeder (Entwicklungs-) Stufe vom Denken eines
Erwachsenen unterscheidet. Ist etwas für einen Erwachsenen einleuchtend und
logisch, so muss dies noch längst nicht für ein Kind ebenfalls einleuchtend und
logisch erscheinen.
Wichtig ist, dass die Stufen grundsätzlich aufeinander aufbauen, das jeder Stufe
zugeordnete Lebensalter ist jedoch nur als Anhaltspunkt zu betrachten: Die
Übergänge zwischen der einzelnen Stufen sind fließend und das jeweilige
Lebensalter kann individuell abweichen (vgl.
Piaget
& Inhelder, 1972, S. 153)
Die Entwicklungsstufen nach Piaget:
(je nach Autor gibt es leichte Unterschiedene in den Namen der Phasen/Stufen)
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Bevor diese vier Stufen ausführlich erläutert werden, sehen wir uns einige Grundannahmen des Modell von Jean Piaget an; diese Grundannahmen dienen als Grundlage für die vier Stufen der kindlichen Entwicklung des Denkens. |
Bei der Entwicklung haben nach Piaget (vgl. Mietzel, 2001, 75) vier Faktoren einen Einfluss auf die
kognitive Entwicklung:
- Reifung,
- Aktive Erfahrung,
- Soziale Interaktion,
- Streben nach Gleichgewicht.
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Nach Jean Piaget
strebt ein Individuum nach einem Gleichgewicht (Äquilibrium) zwischen
Assimilation und Akkommodation. Durch das Assimilieren und Akkommodieren nutzt ein Individuum seine Schemata oder erweitert diese. |
Falls dieser Satz nicht ganz verständlich wurde - hier kommt die Erklärung:
Schema
Ein Schema bildet den Grundbaustein des menschlichen Wissens.
Unter Schema versteht man ein organisiertes Wissens- oder Verhaltensmuster.
Begriffe werden so verzweigt und miteinander vernetzt, dass sie in einen
(individuell) logischen Zusammenhang
gebracht werden.
Ein Schema dient als 'Geistesvorlage' (Schablone), beispielsweise für eine Handlung, mit der man - ohne zu nachzudenken - auf dieselbe Art handeln kann.
Schemata
sind individuelle (d.h. in jedem Menschen verschiedene) Kategorien oder
Netzwerke, in denen nach bestimmten Regeln Objekte oder Ereignisse eingeordnet
werden können.
Piaget differenziert Schemata nach (a) Verhaltensschemata (auch Handlungsschemata) wie z.B. ein Schema für das Laufen, ein Schema für das Hinlegen, ein Schema für das Bücken usw. und (b) kognitiven Schemata wie z.B. Schemata für Gegenstände, welches anhand deren Eigenschaften aufgebaut ist. Verhaltensschemata und kognitive Schemata sind wiederum miteinander vernetzt, so dass sich Mischungen ergeben, wie die nebenstehende Abbildung eines Schema verdeutlicht. Schemata entwickeln sich durch die Differenzierung des Wissens (Akkommodation, siehe unten). So weiß ein Kind z.B. dass man in Keks wegen der Krümel vorsichtiger beißen muss, als in Brot. Unter Schema kann man sich in diesem Zusammenhang ein verzweigtes
System von Karteikarten vorstellen: Sie haben eine Karteikarte für 'Brot'
angelegt, welche eine Beschreibung enthält, wie man mit 'Brot' umzugehen
hat. |
Beispiel für ein Schema:
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Stellen Sie sich bitte einmal vor, wie umständlich es wäre, wenn
keiner mit Nahrung umzugehen wüsste: Sie bekommen eine Scheibe Brot und
wissen nicht, was Sie damit machen können oder sollen. Also probieren Sie
es aus ... können Ihre gewonnene Erkenntnis jedoch nicht abspeichern.
Zitate zu Schemata nach Piaget: |
Bei einem Säugling sind noch wenige solcher Schemata oder "Karteikarten" vorhanden, die sich jedoch mit zunehmenden Alter und mit zunehmender Auseinandersetzung mit der Umwelt deutlich vermehren. Die entsprechende "Karteikarte" wird geöffnet, wenn ein Reiz eine Reaktion erfordert - und das Kind 'weiß', wie es zu reagieren hat.
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Die Anpassung (Adaption) der vorhandenen Schemata - also der individuellen Wissensnetzwerke - an eine aktuelle Situation erfolgt über Assimilation und Akkommodation. |
"Piaget betrachtete die kognitive Entwicklung als Ereignis des ständigen Wechselspiels von Assimilation und Akkommodation. Die Assimilation bewahrt und erweitert das Bestehende und verbindet so die Gegenwart mit der Vergangenheit, und die Akkommodation entsteht aus Problemen, die die Umwelt stellt, also aus Informationen, die nicht zu dem passen, was man weiß und denkt." Zimbardo & Gerrig (1999, 463)
Assimilation
(Angleichung, Annäherung, Verschmelzung, Strukturerhaltung)
Assimilation bedeutet Eingliederung neuer Erfahrungen oder Erlebnisse
in
ein bereits
bestehendes Schema.
Durch die Assimilation werden Reize aus der Umwelt in das bereits Bekannte eingeordnet. Das bereits vorhandene Wissen wird genutzt, um eine
ähnlich erscheinende Situation einzuordnen. Die Wahrnehmung wird falls
nötig so verändert/umgedeutet, dass die vorhandenen, kognitiven Strukturen
(Schemata) ausreichen, um die Situation bewältigen zu können.
Beispiel Assimilation:
Ein Kind hat bereits gelernt, dass
- ein Apfel zum Mund geführt werden muss,
- der Mund geöffnet werden muss und
- ein Stück herausgebissen werden muss.
Trifft dieses Kind nun auf eine Birne, assimiliert das Kind [Apfel und Birne sehen schließlich auch ähnlich aus] und geht mit der Birne genau wie mit einem Apfel um.
Zitate zu Assimilation: |
Akkommodation
(Anpassung, Anhäufung, Anreicherung, Umweltanpassung)
Akkommodation bedeutet die Erweiterung bzw. Anpassung eines Schemas
(also der kognitiven Strukturen) an eine wahrgenommene Situation, die mit den
vorhandenen Schemata nicht bewältigt werden kann.
Akkommodation kommt nur zustande, wenn die Assimilation nicht ausreicht um eine
Situation zu bewältigen, d.h. eine Situation oder eine Reizgegebenheit sich
nicht in ein vorhandenes Schema integrieren lässt. Die vorhandenen Schemata sind
unzureichend und müssen erweitert werden.
Man passt sich dem Vorgefundenen an, wobei das Schema erweitert und somit ausdifferenziert wird. Akkommodation bedeutet die vorhandenen kognitiven Strukturen so
anzupassen, dass sie der Realität (wieder) entsprechen und zukünftig für eine
verbesserte (da ausdifferenziertere) Problemlösung dienlich sind.
Beispiel Akkommodation:
Der Versuch eines Kindes an einem Bauklotz zu saugen, wird durch die Assimilation gestützt,
wenn der Bauklotz einem essbaren Gegenstand ähnlich erscheint. Da der Bauklotz
jedoch keine Nahrung beinhaltet, genügt die Assimilation nicht zur Bewältigung
dieser Situation. Das Kind muss akkommodieren: Das Schema wird erweitert
(vielleicht indem die Karteikarte 'Nahrung' erweitert wird um: Nicht blau, nicht
aus Holz, ...).
Kann eine Situation nicht durch das Ausnutzen der Inhalte bestehender Schemata erfolgreich bewältigt werden [Assimilation], so muss das entsprechende Schema um die neuen Erkenntnisse erweitert werden [Akkommodation].
Zitate zu Akkommodation nach Piaget: |
"Aus pädagogisch-psychologischer Sicht ist von Bedeutung, dass ein Lernender Neues zunächst vor dem Hintergrund des bereits Bekannten interpretiert. ... Es gäbe keinen Anlass, dieses Wissen in Frage zu stellen und zu erweitern, wenn (ihm [Linus, Beispiel. S. 72 ]) keine Gelegenheit gegeben würde, Erfahrungen im Umgang mit Keksen zu sammeln." Mietzel (1998 a, 73)
Bildquelle: Mietzel
(1998 a, 72)
In diesem Beispiel versucht Linus zunächst zu assimilieren: Er versucht mit dem Keks so umzugehen, wie er es mit Brot gewöhnt ist: Eine Scheibe Brot kann man biegen. Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen akkommodiert er: Ein Keks kann nicht mit Brot gleichgestellt werden. Es handelt sich zwar bei beiden um etwas Essbares und um eine Backware, dennoch gibt es Unterschiede. Ein Keks ist etwas anderes, als eine Scheibe Brot - das vorhandene Schema muss erweitert werden (Akkommodation), da es nicht ausreicht.
"Man findet in der Tat auf allen Stadien der Intelligenzentwicklung die Akkommodation und die Assimilation, aber sie sind immer besser differenziert und ergänzen sich in ihrem wachsenden Gleichgewicht immer besser." Piaget (1975, S. 207)
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Assimilation:
Wahrgenommenes passt
in die bereits vorhandenen, kognitiven Strukturen (Schemata). Akkommodation: Die kognitiven Strukturen (Schemata) müssen an die neue Situation angepasst werden, da die vorhandenen Strukturen für die Lösung nicht ausreichen. |
Adaption
/ Äquilibrium
(Gleichgewichtsstreben)
Assimilation und Akkommodation sind Formen der Anpassung (Adaption) des Individuums an seine Umwelt. Lebende Organismen streben nach einem Gleichgewicht
(Äquilibrium) zwischen Assimilation und Akkommodation.
Zitate zu Äquilibrium nach Piaget:
Abb. 92
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Stufen
der kognitiven Entwicklung
Fassen wir zusammen:
Nach Piaget gibt es vier Phasen bzw. Stufen der kindlichen Entwicklung des
Denkens (auch: "der kognitiven Entwicklung").
In jeder dieser
Stufen wird auf die vorherige Stufe
aufgebaut. Piaget war der Überzeugung, dass alle Kinder diese Stufen in derselben Reihenfolge durchlaufen, obwohl das Entwicklungstempo unterschiedlich sein kann. "Es sei hier ein für allemal festgehalten, daß Altersangaben in diesem
Buch immer nur ein durchschnittliches und erst noch ungefähres Alter
meinen" (1977, Anm. 1, S. 119)." Lück
& Miller (1999, 134) Besonders relevant ist die Kenntnis der Stufen z.B. für Erzieher, Lehrer oder Eltern.
Die Stufen verdeutlichen beispielsweise die Wichtigkeit während der ersten
Schuljahre mit Beispielen und Symbolen
zu arbeiten; diese Informationen könnten somit in die Unterrichtsplanung
übernommen werden.
Es sollte versucht werden, einem Kind Probleme in einem angemessenen
Schwierigkeitsniveau entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe zu
präsentieren.
Aus den Ansätzen von Jean Piaget ist ein sehr aktives Erziehungskonzept
abzuleiten, welches von der Welt des Kindes (und nicht der Welt der Erwachsenen)
ausgeht.
Übersicht über die vier Stufen der Entwicklung:
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Sensomotorische Phase |
0 bis 2 Jahre - Säuglingsalter |
In den ersten beiden Lebensjahren sammelt ein Kind Erfahrungen Während des sensomotorischen Stadiums der kognitiven Entwicklung tritt die Intelligenz nur in Form von motorischer Aktivität als Reaktion auf sensorische Reizung auf (vgl. Mönks & Knoers, 1996, 154) Piaget unterteilte die sensomotorische Stufe in sechs
Unterstufen:
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Präoperationale Phase |
2 bis 7 Jahre - Kindergarten- und Vorschulalter |
Das Denken ist noch voll mit logischen Irrtümern, da das kindliche Denken mehr von der Wahrnehmung als von der Logik beherrscht wird. So glauben Kinder zu Beginn der präoperationalen Phase beispielsweise, dass aus einem Junge ein Mädchen werden kann, wenn er Spielsachen von Mädchen (z.B. Puppen) spielt. Anthropomorphismus (oder die Tendenz zur Vermenschlichung) Magisches Denken Kinder machen nach, was sie beobachtet haben: Sie spielen die Rolle ihrer Eltern, fahren Auto oder spielen Situationen und Charaktere nach, die sie im Fernsehen beobachtet haben. In der voroperationalen Phase wird oftmals ein Missverständnis "gelernt", dem
die Mengenlehre entgegentritt: Die "Umschüttaufgabe" (Teil 1)
Egozentrismus
Das Kind hält seine (aktuelle) Ansicht für die einzige Ansicht, nicht für
eine unter vielen.
Das Kind kann sich aus dem Blickfeld Pos. 1 nicht das Blickfeld der
Pos. 2 oder Pos. 3 vorstellen - auch dann nicht, wenn es die beiden
anderen Blickwinkel vorher betrachtet hat.
"Interviewausschnitt (Hall, 1970):
Beispiel:
"Das Kind versteht etwas von Klassen, da es Objekte identifizieren
kann; sein Verständnis ist jedoch unvollständig, da es noch nicht
zwischen scheinbar identischen Mitgliedern derselben Klasse unterscheiden
kann ..." Lefrancois
(1994, 132)
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Phase der konkreten Operationen |
7 bis 12 Jahre - Grundschulalter |
Ab dem siebten und dem achten Lebensjahr wirkt sich die Wahrnehmung nicht mehr in so hohem Maße auf die Urteilsbildung aus. Konkrete Denkoperationen werden möglich: Das Kind kann mehrere Dimensionen einer Situation beachten: Auch Klassen, Serien und Zahlen stellen kein Problem mehr dar. Die "Umschüttaufgabe" (Teil 2)
"Während sich das voroperational denkende Kind zumeist noch von seinem
Wahrnehmungseindruck täuschen lässt, kennt es als konkret operationaler Denker
die richtige Antwort. Wenn einer Menge nicht hinzugefügt oder weggenommen wird,
so erklärt es seine Antwort, bleibt sie unverändert (Aspekt der Identität). Auch
wenn die Flüssigkeitssäule in dem einen Glas höher, im zweiten Glas niedriger
aussieht, berücksichtigt das sieben- oder achtjährige Kind sowohl Höhe als auch
Breite (Aspekt der Kompensation)."
Mietzel
(1998 a, 86)
Dem konkret operationalen Denker gelingt es auch Unterklassen zu addieren (z.B. weiße Perlen + braune Perlen = Holzperlen) und der Rückschluss (z.B. Holzperlen – weiße Perlen = braune Perlen). Vgl. Mietzel (1998 a, 87) Vielen konkreten Denkern bereitet es aber noch erhebliche Schwierigkeiten, unrealistische Annahmen nachzuvollziehen („Angenommen
Autos könnten fliegen, ...). |
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Phase der formalen Operationen |
ab ca. 12 bis 15 Jahre - Jugendalter |
Mit dem Erreichen der Phase der formalen Operationen ist das Individuum in
der Lage, Probleme vollständig auf einer hypothetischen Ebene zu lösen.
Logische Schlussfolgerungen sind ebenso möglich, wie das geistige Variieren von Variablen. "Das erste (Piaget, 1961) ist ein einfacher Test zum verbalen Denkenden des Typs: A > B; A < C; wer von A, B oder C ist der größte? (z.B. John ist dünner als Bill; John ist dicker als Sam; wer ist der Dickste von den dreien? Kinder, die jünger als 11 oder 12 Jahre sind, haben große Schwierigkeiten mit solchen Aufgaben, außer wenn es sich um Objekte handelt, die sie sehen können. Der Grund ist, daß die Lösung der Aufgabe propositionales Denken erfordert, d. h. Nachdenken über hypothetische Aussagen." Lefrancois (1994, 138) |
Arbeitsblatt für "Piaget - Einführung in die kognitive Entwicklung"
Arbeitsblatt für "Piaget - Entwicklung des Denkens"
Ein wichtiges Ziel der "Entwicklungshilfe" im Sinne von Jean Piaget sollte es sein, die selbständige Entwicklung zu ermöglichen und anzuregen. Nur das Individuum selbst ist bei seiner Entwicklung aktiv. Die
menschliche Entwicklung verläuft also um so positiver, je mehr Möglichkeiten
geboten werden, sich mit seiner Umwelt auseinander zu setzen. Piaget
betrachtete Intelligenz als besonderen Fall biologischer Anpassung. Die Aufgabe
der Umwelt besteht in der Bereitstellung von Materialien und Schaffung von
Problemsituationen, die das kindliche Interesse wecken und die selbständige,
aktive Problemlösung anregen.
Dieses Ziel steht in engen Zusammenhang mit dem
Konstruktivismus.