Geisteswissenschaftliche Forschungsmethoden

 

Übersicht Geisteswissenschaft nach Bock, 2000, 33:
- Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis: „Verstehen“ von Sinn und Bedeutung menschlichen Handelns in seiner Eigenart durch Vergleich mit Idealtypen sinnhaften Handelns
- wissenschaftstheoretische Grundorientierung: idiographisch „Wirklichkeitswissenschaft“
- Vorgehen bei der Erhebung: „explorativ“; die einzelnen Schritte und Operationen ergeben sich erst nach und nach durch intensiven Kontakt mit dem Gegenstand
- bevorzugte Erhebungstechniken: offen, nicht standardisiert, qualitativ
- Auswertung: Beschreibung; Erarbeitung von Idealtypen durch Vergleiche von Einzelfällen und Fallgruppen

„Geisteswissenschaften hingegen sollen sich auf mentale [Den Bereich des Verstandes betreffend, geistig; Anm. d. Verf. Objekte beziehen (z.B. emotionale Erlebnisse, philosophische Systeme oder historische Abläufe)] und diese in ihrer individuellen Einmaligkeit beschreiben und verstehen. Dazu dienen die interpretativen oder hermeneutischen Methoden“ Westermann (2000, 41). Demgegenüber beziehen sich Naturwissenschaften „... auf körperlich existierende Objekte (z.B. rotierende Himmelskörper oder sich teilende Zellen), verwenden kontrollierte Beobachtungen und erklären die Ergebnisse durch allgemeingültige Kausalgesetze“ Westermann (2000, 40).

Die Grundlage (Erkenntnismethode) der Geisteswissenschaften ist die Hermeneutik [Hermeneutik: aus dem Griechischen ‚hermeneutike’: Erklären, Darstellen, Deuten, Interpretieren; wissenschaftliches Verfahren der Auslegung und Erklärung von Texten].
Das hermeneutische  Paradigma (nach Wilhelm Dilthey) betrachtet Erziehung als ein geistiges, kulturelles und geschichtliches Phänomen. Sie versucht, ein Ereignis oder eine Situation der Erziehungswirklichkeit über den betreffenden übergeordneten Lebens- oder Sinnzusammenhang heraus zu deuten bzw. zu verstehen. Das Ziel besteht in der Auslegung und Interpretation von Informationen, um das Ziel und die Sinn- und Bedeutungszusammenhänge dieser Information zu erfassen und zu verstehen.

Zentraler Gegenstand der Hermeneutik ist das (sinnhafte) Verstehen bzw. das verstehensmäßige Auslegen von Phänomenen.

„Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“ Dilthey (1964, zitiert nach Krüger & Helsper, 2002, 286).

Nicht das Erklären im Sinne experimentell überprüfbarer und mathematisch darstellbarer Gesetzesmäßigkeiten oder eine quantitative Erfassung, sondern das Verstehen des Sinns und der Bedeutung menschlichen Handelns stehen im Vordergrund. Das Verstehen von menschlichen Bedeutungen, Sinngebungen und Interessen wird somit zur zentralen Methode und zum Erkenntnisziel der Geisteswissenschaften. Da diese Bedeutungs- und Wirkungszusammenhänge nicht direkt greifbar oder erkennbar sind, müssen sie indirekt erschlossen werden (z.B. über Texte, Kunstwerke, Institutionen, Tonbandaufzeichnungen, Plakate, Karikaturen, soziale Situationen, Bräuche oder Sitten). Das Ziel besteht demnach in der Erschließung von Bedeutungen aus wahrnehmbaren Zeichen (vgl. Kaiser & Kaiser, 2001, 253).
Beispiel:
Für das Verstehen eines unkonzentrierten Schülers sollten folgende Inhalte aus dem Leben des Schülers individuell ergründet und verstanden werden (vgl. Gudjons, 2001, 33): Beziehungen, Konflikte, Lebensgeschichte, Lebenskontakt, eigenes Verständnis der Situation und andere Faktoren.
Bei der geisteswissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung spricht man vom hermeneutischen Zirkel: Das Vorverständnis erweitert das ursprüngliche Verständnis, wodurch wieder das ursprüngliche Verständnis korrigiert werden kann bzw. muss (erkenntnisleitendes Interesse).
Besonders die Geschichte der Erziehungswirklichkeit fand Interesse z.B. durch intensive Auslegung von historischen Texten wie z.B. Schulordnungen, Biographien oder Texten von pädagogischen Klassikern (vgl. Krüger, 2002, 28).

Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wurde von den empirischen Pädagogen geäußert: Sie sei zu spekulativ, unpräzise und es fehle die Berücksichtigung der empirischen Erziehungsforschung.

„Die Hermeneutik spielt nicht nur auf allen Erkenntniswegen, sondern auch in fast allen Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere im weiten Feld der Geisteswissenschaften, eine erhebliche, oft unerkannte Rolle“ Eberhard (1999, 82). Nachfolgend nennt Eberhardt (1999, 82; ausführlich siehe dort) folgende wissenschaftlichen Disziplinen, in denen die Hermeneutik von Bedeutung sei: Theologie, Geschichtswissenschaft, Sprachwissenschaft, Jurisprudenz, Kriminalistik, Medizin, Sozialwissenschaften, Psychologie, Pädagogik, Sozialpädagogik, Kunstwissenschaften und sogar Naturwissenschaften.

„Phänomenale Hypothesen oder Thesen findet der Hermeneutiker wie der Naturwissenschaftler dadurch, daß er Realitäten bzw. deren Indikatoren wahrnimmt, sie begrifflich einordnet und in Sätzen beschreibt“ Eberhard (1999, 93).

Die geisteswissenschaftliche Pädagogik, die an Diltheys Philosophie entwickelt wurde, wird von Krüger (2002, 18) „... als die bis heute prominenteste und folgenreichste pädagogische Strömung in Deutschland ...“ charakterisiert.